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Verfasst am: 18 Jan 2008 14:55 Titel: Andrzej Wajdas neuer Film „Katýn“ |
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Hier ein interessanter Artikel aus dem Filmdienst:
Der Vorgang ist authentisch: Am 17. September 1939, 17 Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen und damit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, stoßen im europäischen Osten, auf einer Brücke über dem Bug zwei Flüchtlingsströme aufeinander: Polen aus dem Osten und Polen aus dem Westen. Die einen fliehen vor Hitlers Wehrmacht, die anderen vor Stalins Roter Armee.
Mit diesen emblematischen Bildern beginnt Andrzej Wajdas neuer Film „Katýn“. Katýn – der Name jenes Örtchens, nur 20 Kilometer vom russischen Smolensk entfernt, der für jeden Polen zum Synonym für eines der brutalsten Massaker ihrer Geschichte wurde, für einen Völkermord am Beginn des Zweiten Weltkriegs. Hat man den Film gesehen und über die Geschichte, die er erzählt, reflektiert, dann könnte man sich vorstellen, dass der Film genauso gut, genauso zutreffend ganz schlicht und einfach „Die Polen“ hätte heißen können. Unter den Flüchtenden ist auch eine junge Frau mit ihrem kleinen Kind, die in dem wilden Durcheinander verzweifelt nach ihrem Mann sucht, einem Offizier der so schnell besiegten polnischen Armee. Sie wird ihn nicht finden, nie mehr finden. Das Schicksal dieser durch die folgenden Ereignisse brutal auseinander gerissenen kleinen polnischen Familie durchzieht den Film.
In dem Kino, das Wajdas neuen Film im Herbst 2007 zur Eröffnung des alljährlichen Polnischen Spielfilmfestivals von Gdynia zeigte, waren mehrere Reihen reserviert für „Katýn-Familien“, für jene Menschen, in deren Familien Opfer zu beklagen sind. Da saßen dann erstaunlich viele junge Angehörige, deren Groß- oder auch Urgroßväter in Katýn umkamen, die sich vermutlich an Gespräche im privaten Kreis erinnern können, als über diesen Ort im fernen Russland gesprochen wurde, wo der Opa wahrscheinlich seinen Tod fand. Katýn war und ist in Polen allgegenwärtig. Zum großen Teil wohl auch deshalb, weil der Ort in der Volksrepublik Polen jahrzehntelang nur leise und hinter vorgehaltener Hand genannt werden durfte. Diese Ereignisse aus den Anfangstagen des Zweiten Weltkriegs waren zum Trauma eines ganzen Volkes geworden. Eben auch deshalb könnte der Film „Die Polen“ heißen.
Der Film spannt die Chronologie von den Ereignissen am Bug im September 1939 bis in die Nachkriegsjahre, als zu der bitteren Not und den Entbehrungen, die auch die Menschen dieses Landes zu bewältigen hatten, in vielen Familien die Ungewissheit über das Schicksal des Mannes oder Vaters hinzukam. Eine junge Frau ist zu sehen, die in Krakau in einer Nacht- und Nebel-Aktion versucht, symbolisch einen Grabstein für ihren vermissten Vater aufzustellen. Sterbedatum und -ort wurden damals zum Politikum, das sofort die Schergen des Geheimdiensts auf den Plan rief: Gestorben 1940 bei Katýn oder erst 1942/43? 1940, als die Rote Armee in ihren westlichen Territorien drei riesige Gefangenenlager eingerichtet hatte, in denen vor allem Polen interniert waren, oder erst 1943, als die Deutsche Wehrmacht, nun ihrerseits auf der Flucht, die Leichen Tausender entdeckte? Auf dem Grabstein ist das Jahr 1940 zu lesen. Das Zerschlagen des Steins ist die Antwort der Sicherheitsleute auf die „Provokation“ der Tochter. Eine verhärmte alte Frau ist zu sehen (gespielt von der großen Maja Komorowska), die jahrelang täglich die Zeitungen nach einer Nachricht durchsucht, einer Meldung über das Schicksal ihres Mannes, von dem sie nach 1939 nie wieder etwas gehört hat.
Wajda hat den Film seiner Familie gewidmet. Seine eigene Mutter hat noch fünf Jahre nach Kriegsende immer wieder in den Zeitungen nach einer Nachricht über den Tod ihres Mannes gesucht. Der Vater, Kapitan Jakub Wajda, war nach sowjetischer Gefangenschaft ins Lager Starobelsk bei Charkow gekommen und wurde im Frühjahr 1940 erschossen. 1943 hatten polnische Untergrundzeitungen wie auch die Nazi-Presse Listen mit den von den Russen ermordeten Polen veröffentlicht. Kapitan Wajda war dort mit der Nummer 0844 verzeichnet. Ursprünglich hatte Wajda vor, Teile seines Films in Suwalki, jenem ostpolnischen Städtchen zu drehen, wo er geboren wurde und aufwuchs und der Vater als Offizier diente.
Die Polen als Opfer der späteren Sieger des Krieges auf der einen Seite; die Polen aber auch als Opfer der späteren Verlierer auf der anderen. Parallel zu den Vorgängen in Russland zeigt Wajda den Einzug der Nazis in ihr „Generalgouvernement“, die Krakauer Jagiellonen-Universität. Die Professoren, die sich weigerten, mit den Besatzern zusammen zu arbeiten, kamen ins KZ Sachsenhausen; die Intellektuellen ins Lager bei Berlin, die Offiziere in die sowjetischen Lager – die planmäßige Liquidierung der geistigen Elite eines ganzen Volkes.
Man wird versuchen, dem Spielfilm, der sich eng an die heute von niemandem mehr bestrittenen historischen Fakten hält, eine antirussische Haltung zu unterstellen. Dabei fügte Wajda in seine Geschichte sogar die Figur eines „guten Russen“ ein: Ein Offizier der Roten Armee, der von Stalins Plänen zur Vernichtung Polens wusste, versucht, die Polin mit ihrer kleinen Tochter zu retten, und schlägt ihr vor, ihn schnell zu heiraten. Dann zeigt der Film, dessen Handlung zwischen den verschiedenen Zeitebenen mehrfach springt, den Krakauer Marktplatz, wo 1943 die Nazis den Polen ihre Wochenschau vorführten – mit den Bildern der Exhumierung der Leichen bei Katýn. Menschen mit weißen Kitteln und Mundschutz graben Skelette aus und halten sie in die Kamera. Die Deutschen, die in den von ihnen besetzten russischen und polnischen Gebieten furchtbarste Verbrechen begangen hatten, beschuldigten die Rote Armee der furchtbarsten Verbrechen – und sprachen in diesem Fall tatsächlich die unvorstellbare Wahrheit! Was der Film nicht zeigt: Nach dem Krieg kamen die Vorgänge von Katýn auch im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zur Sprache. Doch der sowjetische Chefankläger Rudenko wies die Behauptung einiger Angeklagter, Urheber der Verbrechen im Wald bei Katýn seien die Russen gewesen, empört zurück. Rudenko war auf der Seite der Sieger und konnte so dafür sorgen, dass die Wahrheit nicht zur Sprache kam.
Was der Spielfilm ebenfalls nicht zeigen kann: 1952, zur Hochphase des Kalten Kriegs, setzte der amerikanische Kongress eine Untersuchungskommission über die Vorgänge von 1940 ein, die zu dem Ergebnis kam, dass die Rote Armee für den Massenmord verantwortlich war. Was wiederum zu einer Gegenpropaganda-Welle der Russen führte. Am Rand der Untersuchung wurde allerdings auch die Vermutung erhärtet, dass der amerikanische Präsident Roosevelt noch vor der Konferenz von Jalta über die Vorgänge von Katýn informiert gewesen sein muss. Der US-Botschafter in Sofia soll ihn mit Informationen versorgt haben. Doch Roosevelt wollte seine im Kampf gegen die Nationalsozialisten verbündeten Alliierten nicht brüskieren. Auch von dieser Seite hatte Polen, das Opfer, keine Hilfe zu erwarten. Ende 1959 beantragte der sowjetische Geheimdienst KGB beim Politbüro der KPdSU die Vernichtung der Personalakten der ermordeten Offiziere. Dem wurde stattgegeben. Katýn war vergessen. Der Status quo in Europa war zementiert. Im Westen erinnerte sich von offizieller Seite niemand mehr an die Vorgänge im Wald bei Katýn, im Osten durfte der Name nicht einmal erwähnt werden. Für Polen aber, für die Angehörigen der Opfer, war der Ort nie vergessen. Er blieb über all die Jahre eine offene Wunde.
Es bedurfte erst der Wende in Europa, damit Licht in diesen dunklen Keller der europäischen Geschichte kam. Gorbatschow gestand 1990 in einem Treffen mit Politikern die Schuld der sowjetischen Seite für die Verbrechen von Katýn ein. Bekannt wurde ein Brief des sowjetischen Innenministers Berija vom 5. März 1940 an Stalin, in dem empfohlen wurde, „14.700 polnische Offiziere und 11.000 Mitglieder konterrevolutionärer Gruppen“ zu erschießen. Stalin, Molotow, Woroschilow und Mikojan bestätigten den Plan mit ihrer Unterschrift. Anfang April begann die Tötungsaktion und dauerte bis Mitte Mai. Wajdas Film endet mit den Bildern dieser Erschießungen. Der Schauspieler Jan Englert ist in der kleinen Rolle eines polnischen Generals zu sehen, der gefasst in den Tod geht. Alles läuft schnell, mechanisch, fast lautlos ab. Gerade das Fließbandmäßige der Vorgänge wirkt umso erschütternder. Am Ende erklingen nur einige wenige Takte aus einem Requiem von Krzysztof Penderecki.
Wajda verfolgte lange den Plan für diesen Film. Ihm fehlte dafür vor allem ein Drehbuch. Erst als die Erzählung „Post mortem – Katýn“ des 77-jährigen Andrzej Mularzyk vorlag, hatte er eine Basis für sein Projekt. Als der Film in den polnischen Kinos mit 190 Kopien anlief, sahen ihn innerhalb weniger Tage über eine Million Zuschauer. Der Publizist Adam Krzeminski spricht von einer „historischen Ikone“, die Wajdas Werk für die polnischen Zuschauer bereits unmittelbar nach seiner Uraufführung geworden sei. Allerdings waren in Polen auch kritische Stimmen zu hören, vor allem von Kritikern der jüngeren Generation, die ihre Enttäuschung über den Film nicht verbergen. Sie vermissen eine differenziertere Darstellung der Ereignisse, stoßen sich an der holzschnittartigen Darstellung der Vorgänge und werfen dem Film vor, allzu sehr ein Werk der Hagiografie zu sein. Der 81-jährige Regisseur verteidigte sich, sein Film sei ein erster Versuch, sich diesem schwierigen, bisher tabuisierten Thema zu stellen. Er habe sich auf „den Weg zur Wahrheit“ begeben. Andere sollten ihm folgen.
„Katýn“ wurde als polnischer Beitrag für den „Oscar“ nominiert. Wajda jedoch wünscht sich vor allem, dass sein Film in Russland gezeigt wird. Er schlug vor, dass er im Moskauer „Dom Kino“ vorgeführt werde, jenem Kino des russischen Filmverbands, wo in sowjetischen Zeiten seine umstrittenen Filme wiederholt gezeigt wurden, die nicht in den normalen Spielplan der Kinos kamen. Natürlich ist ein solcher Film auch heute ein Politikum ersten Ranges. In den aktuellen russischen Geschichtsbüchern sei immer noch nichts über die Vorgänge von Katýn zu lesen. Der russische Präsident Wladimir Putin – ganz Patriot auf dem Gipfel seiner Macht – lehnt es ab, über die Vorgänge zu sprechen. Boris Jelzin habe seinerzeit zu dem Thema alles gesagt, was zu sagen sei. Punkt.
Auf der anderen Seite war befürchtet worden, dass die nationalkonservativen Kräfte Polens den Film im Vorfeld der Wahlen propagandistisch ausnutzen. Auch ist zu befürchten, dass auch deutsche Neonazis, die Verfechter der „Auschwitz-Lüge“, den Film für ihre Zwecke missbrauchen. Film und Politik/Film und Geschichte – auch heute noch ein brisantes Feld. Der Pole Andrzej Wajda dreht einen Film über die Verbrechen im Wald von Katýn. Sein russischer Kollege Nikita Michalkow, der sich kürzlich als Wahlhelfer von Putin zeigte, präsentierte Ende 2007 seinen neuen Film. Thema: der russisch-polnische Krieg im XVII. Jahrhundert. |
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